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Verein

16.10.22

„Der Tod von Adrian Maleika bewegt noch heute“

Zum 40. Todestag des vorm Volksparkstadion durch einen Steinwurf getöteten Fans von Werder Bremen sprachen hsv.de und werder.de mit Bremens Vereinspräsident Hubertus Hess-Grunewald und Cornelius Göbel (Chief Culture & Marketing Officer).

Am 17.10.2022 gedenken wir zum 40. Mal dem Tod von Werder-Fan Adrian Maleika, der 1982 beim Auswärtsspiel des SVW im Pokal beim HSV durch einen Steinwurf ums Leben kam. Welche Gedanken kommen bei Ihnen ganz persönlich an diesen schrecklichen Todesfall?
 
Cornelius Göbel: „Es ist ein unfassbar trauriger Tag für die Familie Maleika und ihre Angehörigen. Die Vorstellung, einen geliebten Menschen in dem Alter und dann auch noch gewaltsam zu verlieren, übersteigt meine Vorstellungskraft. Es muss schrecklich sein. Wir haben uns in den vergangenen Jahren noch einmal sehr intensiv mit dem Vorfall beschäftigt und eine klare Haltung in Richtung Erinnern und Mahnen entwickelt. Der Tod von Adrian Maleika bewegt den Fußball und auch mich persönlich noch heute.“
 
Dr. Hubertus Hess-Grunewald: „Der Tod ist eine Tragödie, die auch mich noch heute beschäftigt und berührt. Das ist eine dieser Wunden, die nicht heilen. Ich erinnere mich noch an die Tage rund um seinen Tod. Damals lebte ich nicht in Bremen, sondern habe die Geschehnisse aus Göttingen verfolgt. Es gab bundesweit eine große Betroffenheit darüber, dass ein 16-jähriger Auszubildender ums Leben kam. Das war ein neuer Tiefpunkt. Und zugleich bestand die Sorge, dass es zwischen Werder- und HSV-Fans zu wütenden, unkontrollierbaren Auseinandersetzungen kommen könnte.“
 
Stattdessen trafen sich nach dem Tod von Adrian beide Vereine in Scheeßel auf halber Strecke, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Was waren die Folgen dieses Zusammentreffens?
 
Dr. Hubertus Hess-Grunewald: „Die Verantwortlichen beider Vereine haben damals sehr besonnen reagiert und konnten auf die Fanclubs einwirken. Diese Haltung und das Treffen waren ein ganz wichtiges Signal. Es wurde innegehalten und der Tod als mahnendes Beispiel erkannt.“
 
Cornelius Göbel: „In Scheeßel wurde zwar offiziell Frieden zwischen den Fanlagern geschlossen, die Bezeichnung ist meiner Meinung nach allerdings unzutreffend, da hier kein „Frieden“ zwischen den Fanlagern geschlossen wurde. Die Rivalität und Abneigung bestand natürlich weiterhin, es war eher eine Art „Abrüstungsgipfel“. In den folgenden Jahren ist die Gewalttätigkeit zurückgegangen, ob das jetzt aber Ergebnis des Treffens oder vielleicht auch Angst um die eigene körperliche Unversehrtheit war, stelle ich zumindest in Frage.“

Was war Ihrer Meinung nach denn die zentrale Konsequenz des Treffens?
 
Cornelius Göbel:
„Das Wesentliche war meiner Meinung nach, dass die Vereine zum ersten Mal gezwungen wurden, zumindest teilweise Verantwortung für das Verhalten ihrer Anhänger zu übernehmen. Dies war vorher nicht so, die Vereine hatten sich bis dahin komplett aus der Verantwortung genommen und die Problematik weitestgehend ignoriert. Für die Vereinsverantwortlichen bestanden die Derbys aus netten Essen mit dem jeweiligen Gegenpart des anderen Clubs. Für die Rivalität der Fanlager gab es kein Verständnis und wenig Kenntnis. Sowohl die Tat als auch das Treffen fanden, gerade wegen der Teilnahme prominenter Vereinsvertreter, große mediale Aufmerksamkeit und führten letztendlich zu konkreten Maßnahmen wie der Gründung des Fanprojektes.“
 
Am Montag finden sowohl in Bremen als auch in Hamburg Gedenkveranstaltungen anlässlich des Todestages statt. Was ist konkret geplant?
 
Cornelius Göbel: „Richtig. Am Montag wiederholt sich der Todestag zum 40. Mal. Wir haben vor circa drei Jahren angefangen, uns mit diesem traurigen Jubiläum zu beschäftigen – unter anderem im Rahmen der Ausstellung ‚Ins rechte Licht gerückt‘. Neben der Thematisierung in der besagten Ausstellung haben wir beim HSV beschlossen, dem Gedenken an Adrian nachhaltig Rechnung zu tragen. Dazu werden eine Gedenktafel am Ort des Geschehens in unmittelbarer Nähe zum Volksparkstadion aufgestellt und ein sichtbares Zeichen gegen das Vergessen gesetzt. Uns ist die legitime Kritik bewusst, dass es 40 Jahre brauchte, damit der Tod von Adrian auch in Hamburg ein würdiges Gedenken erfährt. Auch wenn die aktuell verantwortlichen Personen nichts dafürkönnen, dass dazu zu lang geschwiegen wurde, liegt es umso mehr in unserer Verantwortung, Lehren daraus zu ziehen und zukunftsgewandt zu agieren.“

Dr. Hubertus Hess-Grunewald: „In Bremen werden wir gemeinsam mit der Familie Maleika, die ihr Kommen zugesagt hat, und mit dem Fanclub „Die Treuen“, in dem Adrian Maleika organisiert war, aber auch mit Mitarbeiter:innen und Fan-Vertreter:innen in der Ostkurve des wohninvest WESERSTADION an der Gedenktafel zusammenkommen und innehalten.“
 
Warum ist es Ihrer Meinung nach wie vor wichtig, an diesen Vorfall zu erinnern?
 
Dr. Hubertus Hess-Grunewald: „Die Geschichte von Adrian darf nicht in Vergessenheit geraten. Sie ist Mahnung, trotz aller sportlichen Rivalität und Konkurrenz die Grenze der körperlichen Unversehrtheit niemals zu überschreiten. Das müssen wir immer wieder anmahnen. Ich habe allerdings den Eindruck, dass aufgrund der langen Zeitspanne von nun vier Jahrzehnten diese Mahnung verblasst und den nachwachsenden Fangenerationen weniger bewusst ist als denjenigen, die damals als junge Fans Adrian Maleikas Todesfall miterlebt haben. Gerade deshalb ist das Gedenken am Montag von großer Wichtigkeit.“
 
Cornelius Göbel: „Aus unserer Perspektive gibt es mit Blick auf diesen Vorfall nicht die eine, klare Antwort, sondern mehrere Ebenen, die dabei wichtig sind. Wir wollen als Verein Verantwortung übernehmen; ein junger Mensch ist gewaltsam durch Anhänger des HSV ums Leben gekommen. Adrian ist der erste und einzige Fußballfan in Deutschland, der durch Fußballgewalt gestorben ist. Aus der Verantwortung entsteht für uns die Pflicht, Folgegenerationen immer wieder daran zu erinnern, welch schlimmes Schicksal aus gewalttätigen Auseinandersetzungen entstehen kann. Adrian Maleikas Tod betrifft so viele Menschen und Biografien. Es geht bei aller sportlicher Rivalität darum Mitgefühl den vielen leidenden Menschen gegenüber zu demonstrieren, die von diesem Vorfall betroffen waren und sind sowie darüber hinaus durch diesen präventiven Ansatz eine Wiederholung zu verhindern.“

Viele Jahre wirkte der Tod von Maleika nach, der „Frieden von Scheeßel“ wurde offiziell nie revidiert. Dennoch birgt das Nordderby zwischen dem HSV und Werder Bremen immer wieder eine hohe Brisanz. Wie wichtig ist eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den beiden Vereinen – gerade im Hinblick auf die Vorbereitung dieser Partien? Welche Rolle nimmt dabei die Fanarbeit beider Vereine ein?
 
Cornelius Göbel: „Die Zusammenarbeit ist essenziell. Beiden Vereinen ist bewusst, dass es ein hohes Potenzial für gewaltsame Auseinandersetzungen gibt. Daher ist die Zusammenarbeit nicht nur auf Vereinsebene, sondern vor allem auch in Kooperation mit der Polizei von großer Bedeutung. An so einem Spieltag gilt in erster Linie das Credo „Fantrennung“ – die Fan- und Präventionsarbeit findet an allen anderen Tagen statt. Die Einschätzungen und Perspektiven der Fanarbeit für die Sicherheitsorgane ist von großer Bedeutung hinsichtlich einer Strategie, die einen möglichst gewaltfreien Spieltag sicherstellen soll. Dabei gilt es eine ganze Reihe von Parametern mit einzubeziehen.“
 
Dr. Hubertus Hess-Grunewald: „Die vertrauensvolle Zusammenarbeit ist, wie durch Cornelius Göbel schon angesprochen, wesentlich. Es geht in meinen Augen auch darum, den respektvollen Umgang auch von den Vereinsführungen vorzuleben. In den letzten Jahren hatten wir, egal ob mit Dietmar Beiersdorfer, Carl-Edgar Jarchow oder jetzt mit Jonas Boldt, stets einen vertrauensvollen Umgang.“
 
Wie bewerten Sie die Entwicklung gewaltsamer Auseinandersetzungen in den Nordderbys der vergangenen Jahre und hat sich im Zuge dessen die Präventionsarbeit bis heute bei Werder und dem HSV geändert? 
 
Dr. Hubertus Hess-Grunewald: „Aus der eigenen Erinnerung kann ich sagen, dass sich die Rivalität der Fanlager bis 1982 abgesehen von kleineren Scharmützeln im Rahmen hielt. Der ‚Frieden von Scheeßel‘ hat dann für viele Jahre einen ‚Deckel drauf‘ gelegt. In den letzten Jahren war allerdings wieder eine zunehmende Verschärfung der Situation, auch mit mehr körperlichen Auseinandersetzungen, wahrzunehmen. Diese Entwicklung kann man nicht gutheißen und wir als Vereine müssen da sehr wachsam sein.“
 
Cornelius Göbel:
„Ich finde, dass man bei der Betrachtung dieser Fragestellung zwei Dinge grundsätzlich voneinander trennen sollte: Gewaltprävention kann nur da ansetzen, wo Menschen noch offen für pädagogische Angebote sind. Die Möglichkeit, mit gewaltfaszinierten Menschen Präventionsarbeit durchzuführen, ist nicht gegeben und muss daher zeitlich in einem früheren Stadium ansetzen. Es ist wichtig, sich im Klaren darüber zu sein, dass die beste pädagogische Präventionsarbeit kein Garant dafür ist, dass keine Gewaltfaszination im Individuum entsteht. Hier bedarf es Intervention, also einer Strategie in Kooperation aller relevanten Akteure, welches ein Aufeinandertreffen verhindert. Rückblickend können wir mit Blick auf die zwei Ansätze sagen, dass sowohl im Bereich der Gewaltprävention als auch in der Intervention große Fortschritte bei beiden Clubs gemacht wurden.“
 
Dr. Hubertus Hess-Grunewald: „Definitiv. Es hat eine Ausdifferenzierung der Fanszene stattgefunden und leider gibt es nach wie vor gewaltaffine Teile – trotz schrecklicher Erfahrungen wie dem Tod von Adrian Maleika. Hier gilt es, auf alle Bereiche der Fanszenen einzugehen. Zwischen den Fanabteilungen beider Vereine gibt einen sehr guten, kollegialen Austausch, über den ich sehr froh bin. Es ist eine gemeinsame Verantwortung zu spüren, egal ob das Spiel in Hamburg oder Bremen stattfindet.“
 
Was überwiegt bei Ihnen: Die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen im Nordderby oder der Blick auf die Begleiterscheinungen der Partien? Oder anders formuliert: Wie sehr wünschen Sie beide sich ein baldiges Nordderby?
 
Cornelius Göbel: „Wir sehen die Nordderbys immer aufs Neue als Herausforderung an und dürfen es aus tiefer Überzeugung nicht dazu kommen lassen, dass die Begleiterscheinungen uns den Spaß am Fußball nehmen. Daher gilt: Lieber gestern als morgen – endlich wieder Nordderby!“
 
Dr. Hubertus Hess-Grunewald: „Dem kann ich mich anschließen. Das Nordderby elektrisiert, Fans wie Spieler. Klar, als Verantwortlicher für Sicherheit haben mich die Spiele viele Jahre vor Herausforderungen gestellt, aber für uns alle stecken in diesem Derby so viele Emotionen, die wir uns alle zurückwünschen. Und ich gebe meine Hoffnung nicht auf, dass wir irgendwann auch zu einer gesunden, sportlichen, fairen Rivalität zurückkehren.“