
HSVlive
06.10.21
Junge Fußballer als Menschen betrachten
Im HSVlive-Interview erzählt Sebastian Schmidt, Leiter des NLZ in Norderstedt, welche Grundsätze die Arbeit im Grundlagen- und Aufbaubereich kennzeichnen, wie die Verantwortlichen und Trainerteams dabei gefordert sind und warum Kommunikation auf Augenhöhe mit den jüngsten HSV-Talenten so wichtig ist.
Auf die Sportanlagen in Norderstedt ist Leben zurückgekehrt: Nachdem die Corona-Pandemie den Spiel- und Trainingsbetrieb monatelang lahmgelegt hatte, sind die Mannschaften von der U11 bis zur U15 nun allesamt in ihren Ligabetrieb der Saison 2021/2022 eingestiegen. Jeden Abend tummeln sich auf den Plätzen an der Paul-Hauenschild-Anlage nun wieder fast 100 Kinder des NLZ, die gemeinsam trainieren und sich auf ihre Spiele am Wochenende vorbereiten. Mittendrin ist auch Sebastian Schmidt, der als Leiter des Grundlagen- und Aufbaubereichs die Entwicklung der jungen Talente verantwortet. Der gelernte Physiotherapeut, der in seiner 15-jährigen Laufbahn beim HSV vor seiner derzeitigen Tätigkeit bereits als Teamtrainer, Individualtrainer und Leiter des Schultrainings tätig war, sieht den fußballerischen Aspekt allerdings nur als Mosaiksteinchen in der Ausbildung der Nachwuchsspieler. Vielmehr verfolgen die Verantwortlichen einen ganzheitlichen Ansatz, bei dem die Herausbildung der Persönlichkeit auf und neben dem Platz im Fokus steht. Mut und Optimismus sowie Reflektion und Kritikfähigkeit sind vier Schlagworte, die die Trainerteams bei ihren Spielern ausbilden wollen. Das Fußballfeld an sich sei schließlich „eine Bühne, auf der sich die Spieler einerseits austoben können und andererseits spielerisch lernen, Verantwortung für sich und die eigenen Handlungen sowie für die Gruppe zu übernehmen“, sagt Schmidt. „Unsere Aufgabe ist es, diese Bühne für die Jungs im Hintergrund vorzubereiten und so zu gestalten, dass sie sich auf ihr angstfrei ausleben können.“ Wie die Trainer- und Betreuerteams dies angehen, welche Art der Kommunikation sie mit den Spielern pflegen und wie Verantwortung gezielt an die Spieler übertragen werden soll, das erzählt der A-LizenzInhaber im Gespräch mit dem HSVlive-Magazin.

Im Grundlagen- und Aufbaubereich in Norderstedt trainieren fast 100 Kinder im Alter von 10 bis 15 Jahren, die ihre ersten Schritte beim HSV gehen. Wie schafft ihr es da, jedem der Spieler gerecht zu werden?
Das wichtigste Wort unserer Arbeit ist bereits gefallen, denn es geht dabei nur um eines: den jeweiligen Jungen. Dieser junge Mensch, dieser Fußballer und dessen Entwicklung steht für uns komplett im Fokus. Das klingt erstmal simpel, zieht aber jede Menge Fragen und Arbeitsfelder mit sich. Wie ist der Junge gestrickt? Wie verhält er sich in einer Gruppe? Welchen familiären, sozialen und schulischen Hintergrund bringt er mit? Wo sind seine Potentiale, worin müssen wir ihn stärken? Ich könnte jede Menge solcher Fragen stellen, die wir für jeden Einzelnen der Jungs ausarbeiten. Letztlich drehen sie sich alle darum, mit wem wir es hier zu tun haben und wie wir diesem Menschen auf und neben dem Platz weiterhelfen können. Das ist unsere Aufgabe.
Schule, soziales Umfeld, der Fußball an sich – damit hast du gleich drei ganz große Themenfelder aufgemacht. Wie begegnet ihr dem konkret?
Das stimmt, daraus ergibt sich ein ziemlich großes Feld. Und genauso vielfältig müssen wir auch an die Bearbeitung gehen. Sei es beispielsweise über unsere Tagesbetreuung, in der Kinder nach ihrer Schule gefördert werden oder auch über Elternabende und Seminare, an denen wir die Familien mitnehmen möchten. Grundsätzlich können viele der Themen, die uns im Alltag begegnen, über eine offene und ehrliche Kommunikation gelöst werden. Kommunikation ist das A und O. In einer Mannschaft, zwischen den Teamkameraden, aber auch zwischen Spielern, dem Trainerteam und allen Verantwortlichen. Jeder Spieler bei uns soll wissen: Seine Meinung wird hier gehört. Kommunikation muss auch mit den Jüngsten schon auf Augenhöhe stattfinden, sonst können wir diesen Anspruch an uns selbst, den jeweiligen Spieler komplett zu unterstützen, nicht liefern. Zuhören, Meinungen zulassen, Diskussionen ermöglichen. Das sind für uns wichtige Schlagworte. Ein Beispiel: Wenn sich ein Spieler nicht wohl fühlt, er eine schlechte Note in der Schule bekommen hat, Stress im Freundeskreis oder der Familie erlebt oder die Belastung für ihn in dem Moment schlicht zu hoch ist, dann soll er das äußern dürfen, ohne Angst zu haben, deshalb vielleicht am Wochenende nicht zu spielen. Wir wollen ein Umfeld der Angstfreiheit erzeugen. Denn nur wer ohne Angst ist, wer vielmehr Spaß an der Sache hat, kann sich auf den Fußball konzentrieren und besser werden. Diese Freude wollen wir kreieren. Mit Freude Bewegungsmuster einstudieren ist unser Kernthema im Grundlagen- und Aufbaubereich.

Wird dieses Credo „Spaß haben“ auch von allen Seiten so verstanden? Schließlich wird ein Nachwuchsleistungszentrum zu einem gewissen Grad auch mit einem Leistungsdruck assoziiert.
Ich kann zumindest sagen, dass jede und jeder hier in unserem NLZ das komplett lebt. Es kommt natürlich vor, dass Spieler nervös sind, wenn sie neu zu uns kommen oder auch Eltern an einzelnen Stellen zu viel damit verbinden, dass ihr Sohn beim HSV spielt. Es ist unsere Aufgabe, das zu händeln und die Erwartungshaltung von allen Seiten abzuschwächen. Denn natürlich ist es für jeden Spieler etwas Besonderes, Teil des HSV sein zu dürfen. Aber das Entscheidende ist doch: Der Junge ist derselbe geblieben. Ganz gleich, ob er die Raute auf der Brust trägt oder das Logo eines anderen Vereins. Es mag sich im Laufe der Zeit das Trikot verändern, aber nicht die Ansichtsweise zu diesem Sport. Wir haben es immer mit einem jungen Menschen zu tun, der eine gewisse Freude am Fußballspielen verspürt. Die Jungs brennen für diesen Sport, dieses Feuer wollen wir mit allen Mitteln aufrechterhalten.
Leistung und Freude sollen also vor allem im jungen Alter eng miteinander verknüpft werden. Wie gelingt das?
Es ist ein schmaler Grat, denn wie schon angeklungen geht es auch darum, dass die Jungs sich weiterentwickeln sollen. Dafür sind sie hier. Diese Weiterentwicklung soll aber auf einer natürlichen Art und Weise stattfinden. Wir dürfen eines nicht vergessen: Wir arbeiten mit Kindern und Jugendlichen zusammen. Schulische Themen, Familie und Freunde, die Pubertät – das spielt alles mit rein. Es kennt ja auch jeder von uns, dass uns private Themen belasten. Und das ist bei den Kids nichts anderes. Das kann dazu führen, dass Spieler im Training mal keine gute Leistung bringen oder sich erst recht freispielen wollen, damit es ihnen besser geht. Diesen menschlichen Part dahinter zu sehen, empathisch zu sein, ist wahnsinnig wichtig. Daraus leiten wir wiederum auch viel für unser Spiel auf dem Platz ab
Was genau?
Wenn du nicht empathisch bist, dann kannst du keine Verantwortung übernehmen. Weder als Trainer noch als Spieler. Dafür brauchst du ein Gefühl für deinen Gegenüber und für das Gruppengefüge als Ganzes. Deshalb bin ich davon überzeugt: Einen jungen Fußballer machst du stark, indem du ihn als Menschen betrachtest. Dafür geben wir konkrete Hilfestellungen. Man kann sich das so vorstellen: Auf dem Bolzplatz wird einfach ein Ball in die Höhe geworfen und es geht los. So ist das bei uns nicht, bei uns stehen in einem übertragenen Sinne alle Hilfsmittel und Unterstützungen bereit. Es ist also etwas gelenkter, es wird Feedback gegeben. Aber es ist nicht gepresst. Das ist das Entscheidende. Der angesprochene Leistungsdruck resultiert lediglich aus den einzelnen Aktionen. Wenn ein Junge sein 1-gegen-1-Duell im Training verloren hat und ich ihm sage „komm, morgen gewinnst du mindestens zwei dieser Duelle“, dann ist das doch auch ein Anspruch. Es geht immer darum, wie sich der einzelne Junge jeweils in das Gefüge einbringen kann. Plakativ gesprochen: Wir wollen ihnen eine Bühne geben, müssen diese Bühne aber so kreieren, dass sich die Spieler dort auch vollständig entfalten können. Jeder soll Verantwortung für sich selbst tragen, nicht weglaufen. Wenn ein Spieler bei uns etwas erreichen möchte, dann wollen wir sagen: „Hier ist die Bühne. Nimm diese Bühne und mach was draus. Wenn du Fragen hast, stehen wir dir zur Verfügung und werden dir ein paar Hinweise geben. Aber grundsätzlich bist du derjenige, der selbst bestimmen darf, wohin die Reise geht.“ Diesen Mix aus Eigenverantwortung und Unterstützung gilt es zu kreieren. Die Strukturen in NLZ sind dafür fantastisch, es liegt an uns, sie zu nutzen.
Zu einer Kommunikation auf Augenhöhe gehört auch der Umgang mit Rückschlägen. Wie vermittelt ihr jungen Spielern, wenn sie bei uns fußballerisch keine Zukunft haben?
Diese Gespräche gehören zu unserer Arbeit dazu, das stimmt. Wir versuchen dennoch, eine möglichst große Konstanz in unsere Mannschaften zu bringen. Mit den Kinderperspektivteams und den Talentkadern haben wir zwei richtig gute Wege gefunden, um zur U11 die Spieler beisammenzuhaben, die dann den Weg auch mindestens bis zur U15 mitgehen können. Das ist die Idealvorstellung, die sich so leider nicht immer zu 100 Prozent umsetzen lässt. Auch dann gilt für uns: Bezieh die Spieler immer mit ein, nimm ihre Familien mit, gib regelmäßig Feedback, sodass alle stets wissen, wie der aktuelle Stand ist. Offene Kommunikation und Ehrlichkeit sind auch da die Schlüsselworte.

Wenn wir den Fokus abschließend einmal auf den Fußball und das Geschehen auf dem Platz legen. Worauf kommt es dann an, was ist euch wichtig?
Wir wollen unsere Spieler in ihren individuellen Qualitäten besser machen. Diese Qualitäten zeigen sich zum einen in kognitiven und koordinativen Fähigkeiten und zum anderen in der Technik. Das beides kommt dann in der Umsetzung im Spiel zusammen. Die Spieler sollen angstfrei sein, mutig sein und Selbstvertrauen generieren. Wir sind davon überzeugt: Wenn ich Rückendeckung spüre und ein gewisses Selbstverständnis habe, traue ich mich als Spieler auch, Dinge umzusetzen, auch wenn man etwas schief geht. Dann probiere ich es auch ein zweites und ein drittes Mal. Folglich ist die Spielerentwicklung optimal, wenn Selbstvertrauen vorhanden ist. Dann ergibt sich automatisch, dass wir am Wochenende ein schönes Spiel sehen. Das ist unser Selbstverständnis. Das Ergebnis am Wochenende ist für uns deshalb nicht entscheidend. Wir fragen uns vielmehr: Inwiefern ist es unter der Woche möglich gewesen, dass sich unsere Jungs ausleben? Das müssen sie im Training in den Spielformen trainieren. Das Wochenende ist dann nur noch das Abbild des Trainings, sozusagen ein Feedback. Mehr nicht.
Welche Rolle nimmt für euch taktisches Verhalten ein?
Individualtaktische Elemente, also wie der Einzelne taktisch clever andribbelt, sich freiläuft oder sich im Spiel gegen den Ball fallen lässt, üben wir ein. Teilweise auch in der Kleingruppe. Aber nicht mehr, der Rest ist freies Spiel. Da denken wir nicht in Positionen, sondern in Qualitäten der Jungs. Letztlich hat Taktik, überspitzt formuliert, hat auch was mit Kontrolle, mit Zwang zu tun. Wir können Spieler mit taktischen Finessen auch auf für sie weniger guten Positionen dazu bringen, dass das Ergebnis am Ende stimmt. Das ist aber nicht unser Ansatz, denn das bedeutet noch lange nicht, dass sich der Spieler bestmöglich entwickelt. Dann steht der Junge nicht mehr im Fokus. Wir wollen flexible, vielseitig einsetzbare Spieler ausbilden, die von der Anlage her sowohl defensiv als auch offensiv spielen können und ihre Position langfristig für sich selbst finden. Diese Flexibilität setzt unsere eigene voraus.
Entscheidende Person ist dabei der Trainer, der eben nicht nur auf dem Platz wichtig ist, sondern vor allem als Kommunikator, Organisator und auch Pädagoge. Wie fördert ihr euer Personal dahingehend?
Kommunikation, Organisation und Betreuung betreffen nicht nur die Cheftrainer. Unsere Trainerteams bestehen darüber hinaus aus Co-Trainern, Videoanalysten, Athletikcoaches, Sportpsychologen, Physiotherapeuten, Pädagogen. Alle einzelnen Personen wirken auf das Mannschaftsgefüge ein. Für uns ist das super, denn wir vereinen hier jede Menge Know-how und können Verantwortung auf viele Schultern verteilen. Umso wichtiger ist, dass zwischen den Trainerteams ein Austausch und ein grundsätzliches Vertrauen besteht. Alles, was wir von unseren Spielern verlangen, verlangen wir auch von unseren Trainern: Sich selbst und sich auch gegenseitig zu feedbacken. Dazu sind alle bereit und nehmen das sehr gut an.