Interview
05.09.21
"Die Gesamt-Entwicklung des Clubs ist das Entscheidende"
Im Interview mit HSV.de spricht Vorstand Jonas Boldt über die abgeschlossene Transferperiode, die Erwartungshaltung in Hamburg und über die Kritik an einer veränderten Philosophie.
Nachdem in der vergangenen Woche das Sommer-Transferfenster geschlossen wurde, folgte an diesem Wochenende nun aufgrund der Länderspiele das erste spielfreie Wochenende. Eine gute Möglichkeit auf den bisherigen Saisonstart zurückzublicken. Vorstand Jonas Boldt spricht im Interview auf HSV.de über die abgeschlossene Transferperiode, die Erwartungshaltung in Hamburg und über die Kritik an einer veränderten Philosophie bei der Trainerauswahl und den verpflichteten Spielern.
Am Dienstag schloss das Transferfenster. Siehst du den Kader nach Abschluss der Transferphase qualitativ und quantitativ wunschgemäß besetzt?
Jonas Boldt: Wir müssen die Bewertung an die Rahmenbedingungen unseres Standorts knüpfen. Ich kann verstehen, dass die Erwartungshaltung hinsichtlich Namen beim HSV sehr groß ist, dass sich einige Fans auch noch andere Spieler gewünscht hätten. Die meisten Menschen können aber nicht hinter die Kulissen gucken. Wir gehen den Weg, um etwas nach vorn zu bringen und gleichzeitig wirtschaftlich vernünftig zu arbeiten.
In diesem Sommer hat der HSV – wie schon in den vorangegangenen Transferfenstern – verhältnismäßig hohe Einnahmen generiert, diese scheinen aber auf der Zugangsseite nicht voll reinvestiert worden zu sein. Inwieweit nimmt Corona einen starken Einfluss auf die gegenwärtige Transferpolitik?
Der HSV hat in den Jahren zuvor auf dem Transfermarkt wirtschaftlich nicht immer gut gearbeitet, dafür müssen wir immer noch ein bisschen Tribut zollen. Seit ich hier bin, ist es eine Vorgabe, dass wir Gelder einnehmen müssen. Die einfachste Weise ist durch Transfers, auch wenn wir die Spieler gerne gehalten hätten. Wir haben mit Douglas Santos und Amadou Onana zwei Top-Transferverkäufe aus der 2. Liga heraus getätigt, die es je gegeben hat. Das hat mit unserem wirtschaftlichen Plan zu tun. Mir wäre es sportlich auch lieber gewesen, dass Amadou noch ein Jahr länger hiergeblieben wäre, noch einen Schritt gemacht hätte und dann gewechselt wäre. Da spielt Corona aber eine Rolle. Wir arbeiten mit Frank Wettstein bei Vertragskonstellationen und Ablöse in eine Richtung, die absolut vernünftig ist. Wir hatten in den vergangenen Transferfenstern jeweils einen Transferüberschuss, haben die Gehaltskosten heruntergeschraubt und trotzdem eine schlagkräftige Truppe am Start.
Am letzten Tag der Transferperiode wurden mit Mario Vuskovic und Tommy Doyle noch zwei junge, entwicklungsfähige Spieler verpflichtet. Was kann man von diesen beiden Talenten schon erwarten und was noch nicht?
Ähnlich wie bei vielen Spielern in unserem Kader handelt es sich auch bei diesen beiden um Spieler, die hungrig sind, den HSV als nächsten Karriere-Step für sich sehen und einen möglichst großen Anteil daran haben wollen, mit der Mannschaft sportlich Siege einzufahren. Wann sie spielen und wie viel sie spielen werden, ist eine Frage für den Trainer und der Konkurrenzsituation. Wir haben von vornherein gesagt, dass wir Transfers nur machen, wenn sie Sinn ergeben. Von der Position, den Profilen, den Charakteren und vom Leistungspotenzial tun sie es. Es geht nicht darum, Transfers zu machen, um diese zu präsentieren, sondern nur welche, die für den Kader sinnvoll sind.
Im vergangenen Jahr wurden mit Simon Terodde, Klaus Gjasula, Sven Ulreich und Toni Leistner erfahrene Akteure verpflichtet, die nun alle wieder abgegeben wurden. Hat man da nicht einen Weg verlassen?
Aus meiner Sicht haben wir den Weg nicht verlassen, sondern in den vergangenen Jahren das erste Mal einen Weg eingeschlagen. Dass ein Weg Anpassungen braucht, insbesondere wenn Dinge nicht ganz so funktionieren, ist unabdingbar. Das Schlimmste ist, wenn man etwas stur durchzieht und sich die Augen zuhält. Deswegen haben wir Anpassungen vorgenommen. Manche waren notwendig, weil Verträge nicht verlängert werden konnten, bei manchen haben wir Verträge aufgelöst oder bewusst nicht verlängert. Das hat mit Rahmenbedingungen ebenso wie mit der Corona-Situation zu tun. Es hat aber auch damit zu tun, dass wir hier weiter vorankommen wollen. Die Kritik bezieht sich auf Schablonen, in denen viele denken, weil sie es sehen wollen. Man kann nicht immer alles zu 100 Prozent erklären, aber die Menschen, die sehr gut zuhören, erkennen eine Idee dahinter. Das ist auch ein Feedback, das wir bekommen.
Dennoch wurde diesen erfahrenen Spielern in der Vergangenheit eine große Rolle zugetraut. Welche Erkenntnisse haben den Ausschlag dafür gegeben, in dieser Saison auf andere Spieler zu setzen?
Die Entscheidungen hatten ganz unterschiedliche Gründe. Es gab Überlegungen, mit dem einen oder anderen zu verlängern. Der Wunsch der Spieler, sich zu verändern, war aber auch da. Das gehört zum Geschäft dazu und das respektieren wir. Warum in diesem Fall gleich von einem Paradigmenwechsel gesprochen wird, kann ich nicht verstehen. Es wird sehr viel schwarzweiß gesehen. Aus den gleichen Gründen gab es für uns die Chance, einen Sebastian Schonlau oder Jonas Meffert zum HSV zu holen, weil sie sich verändern wollten. Für diese Spieler ist der HSV kein Downgrade, sondern ein Upgrade, und sie haben den Hunger, mit dem HSV voranzukommen. Das wollen wir hier kreieren. Wir haben eine gute Mischung mit vielen jungen Spielern. Trotzdem sagen wir nie: Jugend forscht. Ich rechne nicht jeden Tag den Altersdurchschnitt aus. Es ist bis auf Tom Mickel kein Ü30-Spieler mehr dabei, aber trotzdem haben wir erfahrene Zweitligaprofis, die eine Mannschaft führen wollen.
Es gibt die Stimmen, die sagen, dass der HSV durch die Verpflichtung von Tim Walter einen komplett anderen Weg gegangen sei und keine klare Philosophie habe. Was entgegnest du dieser Meinung?
Ich erkläre, dass wir in erster Linie überlegen, welchen Trainer wir holen, weil wir ein gewisses Profil suchen. Das war sowohl bei Dieter Hecking und Daniel Thioune als auch jetzt bei Tim Walter so. Das Profil hat sich etwas angepasst: von der Persönlichkeit und der Spielumsetzung des Trainers. Aber es war klar: Wir werden immer eine Mannschaft sein, die viel den Ball hat und deswegen brauchen wir einen Trainer, der damit umgehen kann und ebenfalls offensiv spielen lassen möchte. Ich sehe nicht viele philosophische Unterschiede zwischen Tim und Daniel, außer dass die Anlage der Spieleröffnung bei Tim noch mutiger ist. Wir haben dazu weiterhin viel Ballbesitz und wollen viel mit dem Ball arbeiten. Jetzt arbeiten wir sogar noch aggressiver im Pressing.
Nimmt der Trainer damit nicht Einfluss auf die Transferpolitik?
Wenn man sieht, welche Spieler bisher viel gespielt und auf sich aufmerksam gemacht haben, dann reden wir zum Beispiel über Sebastian Schonlau. Bascho haben wir verpflichtet, bevor Tim Walter hier überhaupt zur Debatte stand. Oder auch Jonas Meffert, ihn kenne ich seit über zehn Jahren, habe ihn persönlich begleitet und auch vorher schon überlegt, ihn hierherzuholen, aber die Rahmenbedingungen haben nicht gepasst. Dass Tim Walter ihn auch kennt und die Idee sehr gut fand, ist logisch. Wir hatten auf der Position Bedarf, deshalb passt es. Es ist ein Zusammenspiel: Man wählt einen Trainer aus, der eine Idee hat, mit der wir uns identifizieren und bei Spielern über die gleiche Denkweise redet. Dazu fällt mir noch ein drittes Beispiel ein.
Bitte.
Bei Moritz Heyer, der diese Saison schon zwei Tore geschossen hat, wurde uns vergangenes Jahr attestiert: Das hat nichts mit Scouting zu tun, das machen die nur für Daniel Thioune. Der war aber sogar eher etwas skeptisch, weil er gesagt hat: Jetzt nicht nur Spieler aus Osnabrück holen. Aber wir kannten Moritz Heyer natürlich. Er ist ein fantastischer Spieler für die Liga, der weiterkommen möchte, der den Trainer gut kennt, der Dinge sehr schnell umsetzen kann, wie man gesehen hat, und der vielseitig einsetzbar ist. Deswegen spielt er auch jetzt eine gute Rolle. Es gibt eine Philosophie. Die gibt der Club vor. Danach sucht er einen Trainer aus und im Anschluss werden Spieler verpflichtet. Das ist ein Prozess. Scouting ist: die Spieler zu kennen, richtig einzuschätzen und nicht nur auf den Trainer zu hören.
Toni Leistner scheint nicht mehr in das Spielsystem des Trainers gepasst zu haben. Hätte es da nicht noch einen anderen Weg als einen Auflösungsvertrag geben können?
Vom Profil hätte Toni ein wichtiger Spieler für diese Liga werden können. Allerdings hat er gesagt, und das ist auch ehrlich von ihm, dass er sich nicht zwingend in der Rolle sieht, den Gute-Laune-Bär hintendran zu spielen. Das ist vollkommen ok und nachvollziehbar. Dafür hat er sich seine Sporen verdient. Aber um erfolgreich zu sein, brauchen wir eine Gruppe, die sich gegenseitig unterstützt und deswegen war es für alle das Beste, einen sauberen Cut zu machen. Wir haben uns vernünftig verabschiedet und deshalb wird Toni in Hamburg auch immer willkommen sein und wir können uns in die Augen gucken.
Kommen wir zurück zum Spielsystem. Wofür möchten die Mannschaft und der HSV stehen? Stichworte: mutiger Offensivfußball, junge Mannschaft.
Man muss sich identifizieren mit dem HSV und mit allem, was drumherum ist. Da gehört Mut dazu, auch Bereitschaft, die Liga anzunehmen, Zweikämpfe zu gewinnen und wenn es fußballerisch nicht gut läuft, anders dagegen zu halten. Immer in dem Wissen, dass man in dem Trikot des HSV in der 2. Liga mehr den Ball hat und eine größere Erwartungshaltung erfüllen muss als woanders.
Inwieweit wird im Hinblick auf diese Richtung das Thema Geduld eine zentrale Rolle einnehmen?
Bei uns in der sportlichen Führung und auf der Geschäftsstelle gibt es die Geduld. Natürlich auch bei ganz vielen Fans, die mich darauf zum Beispiel auf der Straße ansprechen. Es gibt aber natürlich auch unruhige und ungeduldige Fans. Und dass man diese Stimmen mehr hört, wenn es nicht so läuft, ist auch klar. Das will ich aber gar nicht kritisieren. Das macht diesen Standort aus. Aber die Sehnsucht nach Kontinuität und Geduld ist sehr groß. Das spüre ich. Dafür müssen alle an einem Strang ziehen und die Nerven bewahren.
Vom HSV wird aufgrund der Größe des Clubs, der Stadt und der Historie Jahr für Jahr der Aufstieg erwartet. Wie vermittelt man den Fans und dem Umfeld, dass man sich vielleicht auch mal zwei, drei Jahre für dieses Ziel Zeit nehmen muss?
Ich kann nicht mehr tun als es zu erklären, es vorzuleben und diesen Weg mit allen Gremien und Menschen, die darauf Einfluss haben, gemeinsam einzuschlagen. Kommunikation spielt dabei eine wichtige Rolle. Es wird einem aber nicht gelingen, alle Menschen immer auf den gleichen Stand zu bringen und alle gleich zufrieden zu stellen, weil die Meinungen unterschiedlich sind. Und wenn die Ergebnisse nicht stimmen, dann kann ich verstehen, dass ein gewisser Unmut auftaucht, aber damit muss man umgehen können. Das versuchen wir vorzuleben. Wie lange das braucht, wird man sehen. Da gibt es für mich kein Zeitfenster. Die Garantie im Fußball gibt es nicht.
Muss diese Zielsetzung offensiver artikuliert werden, um die Fans auf dem Weg mitzunehmen?
Wir haben schon immer sehr klar kommuniziert, dass wir hier etwas aufbauen und entwickeln, aber trotzdem sportlich erfolgreich sein wollen. Das heißt nicht, dass wir keine Ambitionen haben. Aber wir können realistisch einschätzen, dass Erfolg nicht garantiert werden kann. Das geht auch allen anderen Clubs so. Es wird immer Enttäuschungen geben. Wir haben nie gesagt, dass wir kleinere Brötchen backen wollen. Ich bin lang genug im Profifußball dabei, um zu wissen, dass ein einzelnes Wort eine Schlagzeile darstellt, auf der immer rumgeritten wird, weil man nicht immer genau hinhören möchte und heutzutage immer wieder Schablonen herausgeholt werden.
Was können wir von Clubs wie Fürth, Union, Bielefeld & Co. lernen, um auch den nächsten Schritt zu gehen?
Das muss man unterschiedlich bewerten, weil der Standort eine Rolle spielt. Der VfB Stuttgart ist aufgestiegen mit einer wirtschaftlichen und sportlichen Erstligatruppe. Ähnlich wie es der HSV in der ersten Zweitligasaison hätte schaffen können. Bei Union Berlin und Arminia Bielefeld ist über Jahre etwas gewachsen: wenige Transfers, gleiche Trainer, Kontinuität, verhältnismäßig ruhiges Umfeld und dann aus der Underdog-Rolle in eine Dynamik reingekommen. Trotzdem weiß ich nicht, ob die Art und Weise, wie dort Fußball gespielt wurde, hier in Hamburg funktioniert hätte, weil die Erwartungshaltung eine andere ist. Wenn man merkt, dass bei uns am zweiten Spieltag, wenn der Ball zum Torwart zurückgespielt wird, ein Raunen durchs Stadion geht. Das ist an solchen Standorten nicht der Fall. Deswegen kann man Union Berlin, Arminia Bielefeld oder Greuther Fürth nicht einfach nach Hamburg kopieren.
Nach fünf Spieltagen ist es vielleicht noch etwas zu früh für ein erstes Zwischenfazit, aber dennoch die Frage: Wie ist dein bisheriger Eindruck von der diesjährigen 2. Liga?
Viele Spiele hatten eine ähnliche Spielgeschichte. In manchen Partien hat uns das Momentum gefehlt, wie es auf Schalke der Fall war, weil wir es uns nicht erarbeitet haben. Wenn ich das Spiel auf St. Pauli nehme, wo wir keine gute erste Halbzeit gespielt haben. Wir gehen trotzdem mit einem 1:1 in die Pause und kommen super in die zweite Hälfte. Unverständlicherweise kriegen wir keinen Elfmeter, ein paar Minuten später steht es 1:3. Das gehört dazu. Auf Schalke hält Ferro super, deswegen kriegen wir nicht direkt den Ausgleich, bleiben stabil und setzen am Ende einen Konter. Gegen Dresden muss es zur Halbzeit 4:0 stehen, am Ende geht es 1:1 aus. In Heidenheim spielen wir deutlich besser als die Jahre zuvor, müssen auch als Sieger vom Platz gehen, können uns aber auch nicht beschweren, wenn ein Lattentreffer der Gastgeber reingeht. Die 2. Liga zeichnet aus, dass es super eng ist. Das merkt man in jedem Spiel. Deshalb ist es unsere Aufgabe, noch härter daran zu arbeiten, dass wir den Sack früher zu machen und das Momentum auf unsere Seite ziehen. Ich habe viele gute Dinge gesehen, weiß aber auch, dass es ein Prozess ist, und dass keine Mannschaft wie selbstverständlich durch diese Liga marschiert.
Wann würdest du am Ende der Saison sagen, dass wir eine positive Entwicklung genommen haben? Kann der HSV auch Siebter werden und das Ziel erreichen?
Natürlich spielt der Tabellenplatz eine wichtige Rolle, aber die Gesamt-Entwicklung des Clubs ist das Entscheidende. Ich finde, es gibt einige Dinge, die sich hier verändert haben. Es ist deutlich ruhiger geworden, der Zusammenhalt und die Vernetzung zum Nachwuchs sind besser, deshalb werden Spieler nach oben geschoben, die früher im Profibereich vielleicht gar nicht bekannt gewesen wären. Es wächst etwas zusammen. Ich denke, man spürt auf der Geschäftsstelle, dass es mutigere Entscheidungen gibt. Das alles ist nicht immer am Tabellenplatz erkennbar, aber es funktioniert nur so. Am Ende ist der Sport das Produkt. Er kann mit anzünden, aber um zu funktionieren, muss er durch ganz viele andere Zahnräder stabilisiert werden. Ich denke, da sind wir stabiler geworden. Dass einige Protagonisten schon länger da sind und das Zusammenarbeiten vertrauensvoll ist, bestätigt es. Und wir werden und wollen weiter ambitioniert sein.