
Interview
15.10.18
Aaron Hunt: "Ich denke, man muss den Spielern auch ihre Freiheiten lassen"
HSV-Kapitän Aaron Hunt spricht im Interview über den Zauber vom Straßenfußball, die Bedeutung der Individualität und die Sehnsucht nach Typen mit Ecken und Kanten.
Nach den Erzählungen seiner Mutter hatte Aaron Hunt schon immer einen Ball am Fuß – zumindest sobald er laufen konnte. „Seit ich denken kann, dreht sich in meinem Leben alles um Fußball. Der Ball war schon immer mein Freund“, bestätigt der heute 32-jährige HSV-Kapitän, der jüngst beim 2:1-Sieg in Darmstadt das wichtige 1:0 erzielte. Das Kicken lernte der gebürtige Goslarer dabei vor allen Dingen auf der Straße. Im Kindesalter spielte er zu jeder Tages- und Jahreszeit und egal bei welchem Wetter auf dem örtlichen Bolzplatz – notfalls und gar nicht mal so selten auch allein. „Als Kind habe ich immer versucht, die Szenen aus der Bundesliga nachzustellen. Selbstverständlich auch mit eigenem Kommentar“, sagt Hunt. „Wenn man heute so darüber nachdenkt, dann würde man als Außenstehender denken, der Kleine dort ist doch total bekloppt (lacht). Ich habe mich manchmal auch vergewissert, ob nicht jemand hinter dem Baum steht und mir dabei zusieht und zuhört.“ Die kindliche Freude am Spiel hat der kreative Mittelfeldspieler während seiner mittlerweile 14-jährigen Profikarriere nie verloren. Dabei haben sich die Dinge im Fußballgeschäft umso stärker verändert, wie der HSV-Kapitän jüngst im großen Interview mit dem aktuellen HSVlive-Magazin erklärte. HSV.deveröffentlicht Auszüge dieses Interviews.

Aaron, du hast das Fußballspielen einst auf der Straße gelernt, bist dann früh einem Verein beigetreten und mit 14 Jahren ins Internat gezogen – hast du auf diesem Weg Unterschiede festgestellt oder war Fußball immer pure Freude für dich?
Bei mir war das Gefühl eigentlich immer gleich, es war immer Spaß und Freude. Die Lust auf Fußball ist im Internat nicht weniger geworden. Eher im Gegenteil. Ich hatte meistens bis 13 oder 14 Uhr Schule und das Training stand gegen 17 Uhr an. Ich bin dann nach meiner Ankunft im Internat runter auf den Kunstrasenplatz gegangen und habe schon vor dem eigentlichen Training gekickt. Das war meine ganze Jugend so. Erst bei den Profis wurde es weniger, weil die Zeit knapper und die Belastung höher wurde.
Inwiefern konntest du dir im Profi-Bereich dennoch die Freiheit in deinem Spiel bewahren?
Ich habe meinen Stil schon irgendwie beibehalten. Gleichzeitig habe ich aber auch festgestellt, dass ich mich umstellen muss. Ich war damals noch Stürmer und kannte diese Zweikampfhärte aus der Jugend nicht. Ich stand im Training der Profis anfangs meist im B-Team und habe gegen die Verteidiger der A-Mannschaft spielen müssen: Mladen Krstajic und Valerien Ismael. Die haben mich anfangs wie sie wollten von links nach rechts getreten (lacht). Ich habe dann immer fragend zu Thomas Schaaf geguckt, aber der signalisierte immer nur: weiter, weiter! Die ersten Tage habe ich gekotzt, aber irgendwann war es mir egal und ich wollte einfach an den Spielern vorbei. Das war auch eine lehrreiche Erfahrung.
Läuft man als Profifußballer manchmal Gefahr, sich auf Kosten der eigenen Stärken zu sehr verstellen und verbiegen zu lassen?
Es gibt natürlich viele Trainer, die ein gewisses Schema verfolgen, gewisse Dinge nicht sehen wollen und ihre Spieler in ein System pressen. Davon lässt man sich als Spieler sicherlich auch beeinflussen. Am Ende sollte man allerdings nicht den Fehler begehen, die individuellen Stärken eines Spielers zu verbergen. Ich finde, man muss den Spielern auch ihre Freiheiten lassen. Besonders im Spiel. Denn dort gibt es nicht immer die vorgefertigten Abläufe, die man im Training einstudieren kann. Gerade im letzten Drittel des Spielfeldes passieren immer neue Situationen, die man im Vorfeld nicht vollständig simulieren kann und in denen Individualität und Kreativität entscheiden.
Genau an diesem Punkt hat sich zuletzt auch eine Debatte entzündet. Straßenkicker gelten als aussterbende Spezies, es werden wieder Individualisten und Entscheider gefordert. Wie beurteilst du diese Situation?
Ich stimme diesbezüglich voll zu. Ich finde es schade, dass gefühlt alle Spieler gleich ausgebildet werden, in ein vorgefertigtes Schema passen müssen und immer weniger Wert auf die Individualität jedes Einzelnen gelegt wird. Schließlich hat jeder seine eigenen Stärken und Schwächen. Heutzutage habe ich oftmals das Gefühl, dass der Spieler in erster Linie schnell sein muss. Was er am Ende aber mit dem Ball anfangen kann, ist erstmal zweitrangig.

Und diese Entwicklung ist schädlich für die Zukunft des Fußballs?
In meinen Augen ist es zumindest nicht das, was der Zuschauer sehen möchte. Die Fans begeistern sich vor allem an Weltstars wie Messi, Ronaldo oder Iniesta. Diese Spieler kicken ja keinen Einheitsbrei, sondern stehen für etwas Besonderes. Jeder hat seine besondere individuelle Stärke. Ich persönlich finde es viel interessanter, einen Spieler wie Iniesta zu beobachten als eine taktisch gut ausgebildete und erfolgreiche Mannschaft. Da kommt bei mir irgendwie nichts rüber. Von einem Iniesta kann ein Nachwuchskicker doch viel mehr lernen. Er kann beobachten, wie der sich zwischen den Räumen bewegt, wie geschickt er seinen Schulterblick nutzt und den Gegnern damit immer einen Schritt voraus ist.
Wie verhält es sich mit dem Verhalten abseits des Platzes? Auch diesbezüglich wurden zuletzt wieder mehr echte Typen gefordert.
Schwieriges Thema. Die Spieler sollen heutzutage möglichst geradeaus sein und wenig Ecken und Kanten haben. Dann heißt es aber auf der einen Seite, dass die Spieler immer das gleiche sagen und dass es zunehmend langweilig wird, auf der anderen Seite wird in den Medien aber auch relativ schnell negativ berichtet, wenn es mal jemanden gibt, der eine andere Meinung und Haltung vertritt oder mal einen raushaut. Und die Vereine nehmen ihrerseits ja auch noch Einfluss auf die Äußerungen, was gerade bei jungen Spielern in einer Medienstadt wie Hamburg ja auch völlig nachvollziehbar ist. Leider befinden wir uns insgesamt in einem Zwiespalt. Als Fußballer ist es schwierig, diesbezüglich die richtige Mitte zu finden, du kannst es kaum richtigmachen.
Individuelle Spielweise, Umgang mit der Öffentlichkeit – nimmst du als Kapitän und erfahrener Spieler die jungen Spieler auch an die Hand und gibst ihnen Tipps?
Sportlich gesehen haben die jungen Spieler hier in Hamburg einen großen Vorteil durch unseren Trainer. Er legt großen Wert auf Individualität. Natürlich sieht es gerade beim Training so aus, als wäre bei uns sehr viel vorgegeben. Wenn man am Spieltag aber mal genauer hinguckt, dann stellt man fest, dass auch sehr viel individuell ist. Das hat viel mit Fußball zu tun. Wir versuchen zwar auch, gewisse Dinge und Abläufe einzustudieren, aber wer nachher am Ball ist, muss schon selbst die Entscheidungen treffen. Da gibt es nicht dieses eine vorgefertigte Raster. Christian Titz lässt uns Spielern diesbezüglich auch Freiräume.
Wie viel haben diese Situationen dann noch mit dem kleinen Aaron damals auf der Straße gemeinsam? Hast du noch Momente, in denen du dich wie ein kleiner Junge freuen kannst?
Ja, auf jeden Fall. Diese Momente habe ich auch oft im Training. Beispielsweise, wenn man den einen oder anderen Spieler tunnelt (lacht). Im Spiel ist es genauso. Dann freue ich mich, wenn wir gute Spielzüge haben. Ich kann mich noch daran erinnern, als wir unter unserem jetzigen Trainer im ersten Heimspiel gegen Hertha BSC unser erstes Tor erzielt haben. Da stand ich auf dem Platz und habe gedacht: „Wow, geil!“ So ein Tor – von hinten nach vorn herausgespielt und mit Douglas von einem Außenverteidiger erzielt – hatten wir gefühlt das erste Mal herausgespielt, seit ich zum HSV gewechselt war. Ich war bei diesem Tor zwar nur am Mittelkreis mit einem Kontakt an der Aktion beteiligt, aber das war mir völlig egal, denn es war einfach geil, das so zu erleben. Es hat in dieser Szene perfekt geklappt, das sind die Momente, die für mich Fußball bedeuten. Und in denen kann ich mich immer noch wie vor 25 Jahren auf dem Bolzplatz freuen.
Das komplette Interview lest ihr in der aktuellen Ausgabe des HSVlive-Magazins, das es ab sofort in den HSV-Fanshops zu kaufen gibt, oder online hier in der HSVlive-App.