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Interview

23.10.17

"Der Fußball hat sich radikal verändert"

Im großen Interview mit dem Vereinsmagazin HSVlive sprechen die Assistenztrainer Frank Fröhling und Frank Kaspari über eine Sportart, die sich in den letzten Jahren neu erfunden hat, den schmalen Grat zwischen Führung und Vertrauen sowie die Sehnsucht nach echten Typen mit Ecken und Kanten. HSV.de veröffentlicht Auszüge des Gesprächs.  

Die Nachwuchsförderung ist derzeit ein zentrales Thema in Fußball-Deutschland. Und auch speziell beim HSV, denn zuletzt debütierten mit Tatsuya Ito, Törles Knöll und Fiete Arp gleich drei Eigengewächse in der Bundesliga. Besitzt der Nachwuchs einen immer größeren Stellenwert?

Frank Kaspari: Das Thema Nachwuchs ist in der Tat derzeit sehr präsent. Das ist aber nicht der Grund dafür, dass wir uns ganz besonders intensiv um unsere jungen Spieler kümmern, deren Liste man übrigens noch ergänzen müsste – auch in der vergangenen Saison haben wir junge Spieler in den Bundesliga-Kader gezogen, die man jetzt schon fest dazu zählt: Bakery Jatta zum Beispiel, oder Vasilije Janjicic, der als A-Jugendlicher zum HSV gekommen ist. Wenn man das so sieht, muss sich der HSV wirklich nicht verstecken, zumal ja in der Vergangenheit genau das in Hamburg immer der Vorwurf war: dass zu wenige Nachwuchsspieler den Sprung in den eigenen Bundesliga-Kader schaffen. Grundsätzlich ist es aber schon so, dass heutzutage auf dieses Thema ein großer Fokus gelegt wird. Ein Beispiel: Früher hat die U17-Weltmeisterschaft den normalen Fußballfan nicht interessiert, das war eher eine Fachmesse. Heute hingegen wird sogar die Kader-Präsentation der deutschen U17 live im Fernsehen gezeigt. Es ist um das Thema Nachwuchs ein riesiger Hype entstanden.

Frank Fröhling: Es gibt drei entscheidende Faktoren dafür, dass heute vermehrt Spieler aus dem eigenen Nachwuchs den Schritt in den Profikader schaffen. Als erstes die Nachwuchsleistungszentren, die sich in den vergangenen Jahren sehr stark weiterentwickelt haben und in denen die jungen Spieler viel besser, intensiver und gezielter ausgebildet werden als vor zehn oder 15 Jahren. Zweitens die explodierenden Ablösesummen, die in zweierlei Hinsicht den Vereinen die Nachwuchsförderung schmackhaft machen: Erstens können sie so die Zahlung hoher Ablösesummen vermeiden, auf der anderen Seite aber auch Werte für den Verein entwickeln, indem sie sie später für viel Geld an andere Clubs verkaufen. Und der dritte Punkt ist die öffentliche Präsenz, die Frank gerade ansprach: Der allgemeine Fokus wird deutlich früher auf die nachrückenden Jahrgänge gelegt, was die Beachtung dieser in allen Bereichen deutlich steigert. 

"Wir dürfen nicht vergessen: Der Übergang vom Jugendbereich in den Herrenfußball ist ein ganz gravierender. Wir sprechen hier von der 1. Bundesliga, von den 400 bis maximal 500 besten Fußballern, die in ganz Deutschland spielen."

Ist das öffentliche Interesse am Nachwuchs durchweg als positiv zu bewerten? Oder seht ihr darin auch Gefahren?

Fröhling: Im Grunde ist es natürlich positiv, wenn dem Nachwuchs viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Aber auf der anderen Seite erhöht dies auch den Druck. Auf die Spieler, die immer früher im Scheinwerferlicht stehen, die von Medien und Fans beäugt werden und sich nicht mehr ganz in Ruhe entwickeln können. Und auch auf die Vereine wächst der Druck, diese jungen Spieler, die medial vielleicht etwas vorschnell zu neuen Superstars hochgeschrieben werden, sofort und immer einsetzen zu müssen. Und das, obwohl sie unter Umständen noch gar nicht so weit sind und die überhöhten Erwartungen gar nicht erfüllen können, was dann auch ihrer weiteren Entwicklung nicht zuträglich ist. 

Kaspari: Wir dürfen nicht vergessen: Der Übergang vom Jugendbereich in den Herrenfußball ist ein ganz gravierender. Wir sprechen hier von der 1. Bundesliga, von den 400 bis maximal 500 besten Fußballern, die in ganz Deutschland spielen. Von insgesamt Hunderttausenden. Da gehst du als Jugendlicher nicht mal eben hin und packst das direkt. Allein schon körperlich ist das eine andere Welt. Das bedarf in der Regel einer Anpassungszeit. Manche sind extrem schnell in ihrer Entwicklung, die schaffen das in zwei, drei Monaten, andere brauchen länger, manchmal zwei, drei Jahre. Und die meisten aus einem Jahrgang schaffen es gar nicht. Da platzen schon mal langjährige Träume, auch das darf man nie vergessen.

Wenn es denn einer schafft, erfüllt das dann auch den Trainer mit Stolz?

Kaspari: Es ist ja nicht so, dass es allein der Verdienst der Trainer ist, wenn es ein junger Spieler zum gestandenen Bundesliga-Profi bringt. Der Junge hat dann schon extrem gute Anlagen mitgebracht, die wir mit ihm weiterentwickelt haben. Aber natürlich fühlt es sich gut an, wenn es einer der eigenen Jungs schafft. Frank zum Beispiel hat Niklas Süle bereits als 15-Jährigen in der Hoffenheimer Jugend trainiert, ihn später zu den Profis hochgezogen und heute spielt er Champions League mit Bayern München. Und ich habe in der U17 des VfB Stuttgart Sebastian Rudy, Ermin Bicakcic und Daniel Didavi trainiert. Diese Jungs dann in der Bundesliga wiederzusehen, das macht schon Freude. Solche Geschichten sind schön.

Fröhling: Weil sie eben nicht automatisch oder regelmäßig passieren. Wir haben schon viele Jungs erlebt, die eigentlich alles mitgebracht haben, denen dann aber der Biss oder der Körper oder auch das nötige Glück gefehlt haben. Und auf der anderen Seite gab es einige, die jahrelang gar nicht so sehr aufgefallen waren und deshalb nicht im Fokus standen, sich aber im Schatten der anderen ganz in Ruhe entwickeln konnten und es am Ende gepackt haben. Deshalb ist es meist schwer, schon früh eine Vorhersage darüber zu treffen, wer es am Ende schaffen wird.

"Wenn man das erste Mal gegen gestandene Bundesliga-Spieler antritt, 50.000 Leute Lärm machen und richtig Druck aufm Kessel ist - das ist der Moment der Wahrheit." 

Kaspari: Zumal ja der allerletzte Schritt der schwierigste ist, nämlich der, wenn man dann das erste Mal da unten auf dem Platz steht, gegen gestandene Bundesliga-Spieler antritt, 50.000 Leute Lärm machen und richtig Druck aufm Kessel ist. Da zeigt sich dann, ob einer dem Ganzen gewachsen ist, ob er in diesem Umfeld abliefern kann. Da kann er sich im Training vorher noch so gut präsentiert haben, das ist dann der Moment der Wahrheit.

Fröhling: Janjicic ist dafür ein hervorragendes Beispiel: Der wurde letzte Saison das erste Mal bei den Profis eingesetzt – vor 80.000 Zuschauern in Dortmund. Und wenn du dann siehst, dass dem Spieler in einer solchen Situation nicht der Fuß wackelt und die Bälle ankommen, dann ist das ein richtig gutes Zeichen. Und er bestätigt das ja auch in dieser Saison mit seinen Auftritten. Er spielt das mit seinen 18 Jahren ganz unaufgeregt und souverän und schafft es, sein Potential in der Bundesliga abzurufen.

Was sind denn die entscheidenden Komponenten, die man mitbringen muss, um beste Chancen zu haben, auch den letzten Schritt zu schaffen?

Fröhling: Das Spiel ist unglaublich athletisch geworden. Diese Voraussetzung müssen also alle Spieler mitbringen, denn man wird heute in der Bundesliga keinen Spieler mehr sehen, dem eine gewisse Grundschnelligkeit fehlt. Und ebenfalls entscheidend ist die körperliche Konstitution. Wie verletzungsanfällig bin ich, wie geht mein Körper mit den extrem hohen Belastungen um, wie schnell regeneriere ich? Gerade in Mannschaften, die auch international vertreten sind, ist dies natürlich ganz entscheidend. Es gibt Spieler, die brauchen nach den 90 Minuten zwei, drei Tage, bis sie wieder bei 100 Prozent sind. Und andere verpassen in der gesamten Saison keine einzige Trainingseinheit. Das macht einen gewichtigen Unterschied, ist aber nicht immer etwas, was man sich erarbeiten kann. Verletzungsunanfällig zu sein ist auch etwas, das dir gegeben ist. Oder eben auch nicht.

Kaspari: Das Spiel hat sich radikal verändert. Das liegt auch an den Rahmenbedingungen. Schau dir ein Spiel in den Achtzigern an: Damals gab es keine Balljungen, die den Ball immer wieder direkt ins Spiel zurückbringen, dadurch gab es eine viel geringere Nettospielzeit. Und der Torwart durfte damals jeden vom eigenen Mitspieler zurückgespielten Ball mit der Hand aufnehmen. Das bedeutet, man konnte gar kein Pressing spielen, dieses taktische Mittel gab es aufgrund des damaligen Regelwerks gar nicht. Allein diese beiden Veränderungen sowie die natürliche Weiterentwicklung des Spiels sorgen dafür, dass die Spieler nicht mehr wie früher sieben Kilometer pro Spiel laufen, sondern bis zu 13 Kilometer. Und das ja auch in einem ganz anderen Tempo. 

"Du kannst am Ball alles können – es wird dir gegen Dortmund und Leipzig nichts bringen, aus dem einfachen Grund, dass du gegen diese pfeilschnellen Spieler gar nicht an den Ball kommen wirst, wenn dir die Athletik fehlt." 

Fröhling: Die Gewichtung der Anlagen hat sich durch diese neue Spielweise verändert. Um es mal grob in Zahlen darzustellen: Früher machten 70 Prozent Fußball und 30 Prozent Athletik das Leistungsvermögen eines Profis aus. Diese beiden Komponenten haben sich heute auf jeden Fall angeglichen. Das heißt nicht, dass du als reiner Athlet in der Bundesliga spielen kannst, denn gut kicken musst du schon. Aber genauso wenig wird der beste Techniker in der Bundesliga eine Chance haben, wenn er nicht die nötige Athletik besitzt. Du kannst am Ball alles können – es wird dir gegen Dortmund und Leipzig nichts bringen, aus dem einfachen Grund, dass du gegen diese pfeilschnellen Spieler gar nicht an den Ball kommen wirst, wenn dir die Athletik fehlt. Deshalb: Die Anforderungen an die Spieler sind heute noch einmal deutlich komplexer geworden. Und damit auch Chancen geringer, es mit nur einer ausgeprägten Fähigkeit bis ganz nach oben zu schaffen.

Das Interview in voller Länge, in dem Fröhling und Kaspari zudem über taktische Veränderungen im Fußball, die Planbarkeit eines Spiels sowie ihren persönlichen Umgang mit den Spielern sprechen, könnt ihr kostenlos in der HSV-Magazin-App (iOS, Android) lesen. Die HSVlive ist zudem in allen Fanshops als Print-Heft erhältlich.