Interview
02.06.24
„Das Grundgefühl ist extrem positiv“
Im HSV.de-Interview spricht der neue Vorstand Sport Stefan Kuntz über seine ersten Tage beim HSV, das Eintauchen in die HSV-Kultur, das Rollenverhältnis zwischen Vorstand und Trainer und das Einbringen seines Erfahrungsschatzes im Profifußball.
HSV.de: Stefan, seit rund einer Woche bist du in deiner neuen Funktion als Vorstand Sport beim HSV tätig. Wie hat sich der Start bisher angefühlt?
Stefan Kuntz: Mir ist bei der Mitarbeiterbegrüßung sehr viel Hilfsbereitschaft signalisiert worden und genau das hat sich dann in der ersten Woche auch bewahrheitet. Es waren also keine Worthülsen, sondern überall, wo ich hingekommen bin, war eine große Bereitschaft zur Unterstützung da. Das hat mir für den Start hier beim HSV sofort ein sehr gutes Gefühl gegeben. Ich bin beispielsweise direkt in die HSV-Kultur eingeführt worden. Das heißt nicht, dass ich da jetzt schon komplett drin bin, aber für ein Anfangsgefühl war es für mich sehr beeindruckend. Für mich ist es ein wesentlicher Bestandteil des HSV, dass es eine solche Kultur gibt.
Wie sahen darüber hinaus die ersten Tage im Detail aus?
Es sind viele tagesaktuelle Themen angefallen, wie beispielsweise die ersten Unterschriften im Zuge der Vertragsverlängerung von Tom Mickel. Das war trotz meiner langjährigen Erfahrung im Fußball ein emotionaler Moment, weil es mein erster HSV-Vertrag war. Darüber hinaus bin ich hier im Stadion überall durchgegangen: sowohl durch die Kabine und das Nachwuchsleistungszentrum als auch durch die Geschäftsstelle. Das war mir wichtig, um all die Mitarbeiter in Bezug auf ihre Abteilungen kennenzulernen. Letztlich waren die ersten Tage eine Mischung: Einerseits den neuen Arbeitsbereich und die neuen Kollegen kennenzulernen und anderseits viel im Austausch mit Claus Costa und Steffen Baumgart zu stehen und auch erste Dinge zu analysieren, bei denen ich meine, dass wir noch einen Push vertragen können.
Wie sehen nun die nächsten Schritte aus?
Es geht jetzt sukzessive in Richtung der Kaderzusammenstellung. Bei ein paar Geschichten haben wir das Heft des Handels in der Hand, bei anderen Personalien sind wir beispielsweise von Ausstiegsklauseln abhängig. Zudem stehen viele Gespräche mit dem Aufsichtsrat, meinem Vorstandskollegen Eric Huwer und Mitarbeitern an. Das Grundgefühl ist extrem positiv: Ich hatte bereits vor meinem Amtsantritt eine hohe Motivation und diese wurde, wenn das überhaupt ging, noch weiter gesteigert. Viele Dinge sprudeln im Moment in meinem Kopf, bei denen ich denke, dass ich meine Kreativität und Erfahrung sehr gut einbringen kann. Das ist ein gutes Zeichen.
Dabei gibt es einen ständigen Spagat zu bewältigen: Du musst hier ankommen und alles kennenlernen und zugleich bleibt nicht viel Zeit, um sportlich die Weichen für die neue Spielzeit zu stellen.
Genau, diesen Spagat versuche ich derzeit zu bewältigen. Und dieser hängt natürlich zwangsläufig von der Prioritätenlisten ab. Es gibt vorgegebene Prioritäten, die in meinen Bereich fallen und schnell entschieden werden müssen. Diesbezüglich ist es hilfreich, dass ich ohne meine Familie hier in Hamburg bin. Somit stehe ich zwölf bis 14 Stunden am Tag zur Verfügung. Wenn zum Beispiel wie jüngst das Pokalfinale der U19 stattfindet, dann kann ich mir das Spiel spontan anschauen. Ich habe mir generell vorgenommen, sehr viel aufzusaugen, ohne gleich die Dinge zu bewerten, weil ich mir erstmal alles anschauen und einen umfänglichen Eindruck gewinnen möchte.
Woher schürt diese Herangehensweise?
Jeder Verein hat ein spezielles Gefühl, eine spezielle Stimmung. Und ich bin überzeugt, dass man manches erst beurteilen kann, wenn man voll in die HSV-Welt eingetaucht ist. Vom Rand sieht es manchmal ganz anders aus, als wenn man dann im Becken drin ist. Diese Zeit nehme ich mir auf jeden Fall. Daher habe ich auch gesagt, dass ich auf jeden Fall mit dem bestehenden Team weiterarbeiten und helfen möchte, dass sich die Kolleginnen und Kollegen weiterentwickeln.
Du hast gesagt, dass jeder Club sein eigenes Gefühl hat und du auch schon in die HSV-Kultur eingeführt worden bist. Wie nimmst du den HSV diesbezüglich nach den ersten Tagen wahr?
In der heutigen Zeit, in der es für Jugendliche gar nicht so einfach ist, ihre eigene Identität zu finden, ist es natürlich eine Form von Identität, HSV-Fan zu sein. Und wenn du dann eine Kultur vorfindest, die Loyalität, Zusammenhalt und Weltoffenheit vorlebt, dann wirkt das – besonders bei jungen Menschen – auch auf die Erziehung ein. Es ist toll, wenn junge Menschen diesen Teamspirit erfahren können. Denn es ist heutzutage, nicht zuletzt durch die Gefahren des Internets oder Mobbings an Schulen nicht mehr so einfach, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl zu erleben. Hier wird erst einmal jeder geliebt, der bereit ist, den HSV zu unterstützen. Das finde ich sehr beeindruckend.
Blicken wir auf den sportlichen Bereich: Welches Gesicht soll die HSV-Mannschaft tragen, für welchen Fußball und welche Mentalität soll sie stehen, wenn Anfang August die Zweitliga-Saison startet?
Wir haben gesagt, dass wir Steffen die Chance geben möchten, eine Transferphase zu begleiten und eine komplette Vorbereitung durchzuführen. Steffen hat dabei auch ein großes Grundvertrauen in den Kader. Er ist auch derjenige, der sagt, dass seine Aufgabe als Trainer darin besteht, die einzelnen Spieler besser zu machen. Hier sind wir uns einig. Es ist mir wichtig, dass wir diesbezüglich nicht über einen Baumgart- oder Kuntz-, sondern über einen HSV-Kader sprechen, mit dem der Trainer entsprechend variabel in der 2. Liga agieren kann.
Und wie wird dieser Kader aussehen?
Das werden wir im Detail am Ende der Transferperiode sagen können. Aktuell gibt es noch zu viele unterschiedliche Situationen, bei denen wir nicht alles in der eigenen Hand haben. Wir müssen auf der einen Seite agieren, wenn wir überzeugt sind, dass uns ein Spieler weiterhilft und dann mit ihm die Verhandlungen vorantreiben. Und auf der anderen Seite müssen wir reagieren, wenn ein Spieler seine Ausstiegsklausel zieht oder trotz eines laufenden Vertrags den Club verlassen möchte. Letztlich gehen am Ende der Transferperiode noch häufig Transfers auf, die zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht möglich sind. Auf all diese Situationen bereiten wir uns vor.
Du hast als Trainer der deutschen U21-Nationalmannschaft viele Jahre lang mit jungen und heranwachsenden Spielern gearbeitet. Ist das ein Aspekt, den du hier beim HSV auch intensivieren möchtest?
Dieses Thema ist auf jeden Fall auf der Agenda. Junge Spieler zu entwickeln, heißt für mich, sie so vorzubereiten, dass sie für den Profikader infrage kommen. Am Ende macht´s die Mischung. Wir wollen schauen, dass Stück für Stück HSV-Eigengewächse im Profikader integriert werden. Zugleich hast du in der 2. Liga wenig Zeit, um ganz lange auf eine Entwicklung zu warten. Wir nehmen uns das aber vor. Du hast auch immer mal die Chance, einen jungen und hungrigen Spieler auszuleihen. Denn auch die großen Clubs haben ein Interesse daran, einen jungen Akteur in das Umfeld eines Traditionsvereins zu schicken, der einen gewissen Druck hat und in der Wahrnehmung eigentlich jedes Spiel gewinnen muss.
Eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Spielern nimmt der Cheftrainer ein. Du hast Steffen Baumgart sofort mit Amtsantritt den Rücken gestärkt. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Ein Faktor war, dass er Kleinigkeiten ausgemacht hat, die ihn stören. Und ich bin davon überzeugt, dass es zu einem Schub führen kann und zusätzliche Prozentpunkte freisetzt, wenn man solche Kleinigkeiten beseitigt. Zudem hat Steffen verkörpert, dass er aus den vorhandenen Spielern etwas machen will und kann. Das war und ist sehr ähnlich zu meiner eigenen Herangehensweise an meine neue Aufgabe. Letztlich war es mir ein Anliegen, ihm die besagte faire Chance zu geben. Loyalität ist ein Teil der HSV-Kultur und es wäre nicht HSV-like gewesen, ihm diese Chance zu verwehren.
Du warst selbst sehr erfolgreich als Trainer tätig. Wie interpretierst du das Verhältnis zwischen Vorstand und Coach?
In meinen Augen ist es eine Stärke als Vorstand, dem Trainer seine Vorstellungen zu lassen. Ich sehe mich eher als Sparringspartner, dass ich zurückmelde, wie etwas in meinen Augen wirkt oder nicht. Ich sehe mich als aktiver Spiegel, der immer mal wieder nachfragt, aber auch eine breite Unterstützung ausstrahlt. Ich habe nicht die Vorstellung, dass die Mannschaft exakt nach einem Muster spielen soll und nur für eine bestimmte Spielweise steht. Du kannst als Vorstand dafür sorgen, dass es ein HSV-Kader ist, aber alles andere fällt in den Kompetenzbereich des Trainers. Ich habe beispielsweise auch nicht eine Sekunde daran gedacht, mich mit unten auf die Bank zu setzen.
Statt auf jener Trainerbank sitzt du in deiner neuen Position fortan wieder vorrangig im Büro. Wie kam es überhaupt dazu, dass du diese Rolle wieder einnehmen wolltest?
Für mich war es schon immer wichtig, Herausforderungen zu haben. Denn an Herausforderungen entwickele ich mich als Persönlichkeit weiter. Ich konnte daher zuletzt auch nicht sagen, dass ich zu 100 Prozent Nationaltrainer bleibe. Als der erste Anruf und damit die Frage kam, ob ich mir vorstellen kann, wieder als Sportvorstand zu arbeiten, habe ich für mich gedacht, dass ich das mit all meiner Erfahrung kann, es aber auch von dem Club abhängt. Und diesbezüglich glaube ich, dass eine gewisse emotionale Distanz gar nicht so schlecht ist, um Sachen zu beurteilen. Dass jemand mal da ist, der nicht schon ewig im HSV-Kosmos drinsteckt. Aber für mich persönlich gilt auch: Am Ende kann ich einen Job nur antreten, wenn es kribbelt. Und das war der Fall. Ich habe meiner Frau gesagt, dass ich unbedingt noch etwas anpacken möchte. Und sie hat nach meinem ersten Treffen mit dem HSV-Aufsichtsrat gesagt: „Das ist deins, gell?“
Verändert der Rollentausch auch dein generelles Verständnis von Führung? Es ist sicherlich etwas anderes, einer Mannschaft als Trainer oder einem ganzen Verein als Vorstand vorzustehen?
Als Trainer hat es mich extrem verbessert, dass ich zuvor Menschen auf einer Geschäftsstelle geführt habe. Diese Erfahrungen beim VfL Bochum und dem 1. FC Kaiserslautern haben mir gezeigt, was in der Führung von Menschen funktioniert oder nicht. Ich konnte diesen Aspekt schon bei der U21-Nationalmannschaft gewinnbringend einfließen lassen, vor allem in der Zusammenarbeit mit jungen Menschen. Auch der generelle Druck eines Turniers mit einem DFB-Team oder noch einmal potenziert die Challenge bei der türkischen Nationalmannschaft mit einem anderen Kulturkreis und einer anderen Emotionalität haben mir im Hinblick auf den Führungsaspekt sehr weitergeholfen. In diesem Bereich habe ich also sehr viel Erfahrung sammeln dürfen.
Auch beim HSV stehen die Spieler unter dem Brennglas der Öffentlichkeit. Sind die Strahlkraft und Historie eines solchen Traditionsclubs in deinen Augen eher ein Fluch oder ein Segen?
Generell sind die 15 Zentimeter zwischen den Ohren für mich nach wie vor das Ausschlaggebende im Fußball. Da ist es egal, wie talentiert jemand ist. Wenn dieser Bereich nicht vollständig funktioniert, dann hilft all das Talent nicht. Der Kopf spielt aus meiner Sicht eine große Rolle – und damit auch der für mich positiv besetzte Begriff von Demut. Der Profifußballer ist aufgrund seines Status´ nicht einen Prozentpunkt besser als irgendjemand anderes – sowohl beim HSV als auch generell. Solange die Spieler dies beherzigen, ist mir alles recht. Sobald ich aber merke, dass es einer nicht versteht, versuchen wir denjenigen einzufangen und auch zu unterstützen. Mir sind diese genannten Werte sehr wichtig. Mir fällt diesbezüglich eine Anekdote von einem Fan aus meiner Lauterer Zeit ein, der mal zu mir gesagt hat: „Du als Spieler lebst meinen Traum. Ich wäre gern dort, wo du bist.“ Wenn man sich das vor Augen führt, dann nimmt das aus meiner Sicht viel von dem vermeintlichen Druck. Und dann ist die Wucht, die ein Traditionsclub wie der HSV entfachen kann, definitiv ein großer Segen und eine riesige Unterstützung.